Was ist Komparatistik?
Die Komparatistik beschäftigt sich mit Literaturen verschiedener Sprachen und mit der Theorie der Literatur. Sie entwickelt sich im 19. Jahrhundert neben den und gegen die Nationalphilologien und betont die Vielfalt der Literaturen der Welt und die engen Beziehungen zwischen diesen. Sie interessiert sich für die andauernden Traditionen der europäischen Literaturen: für das Fortleben der antiken und biblischen Stoffe und Formen, für die Entstehung der ‚modernen Literatur‘ um 1800 und der literarischen Moderne um 1900, die sich jeweils nicht aus einer Nationalliteratur speisen, sondern erst im Konzert verschiedener Literaturen verstanden werden können. Zunehmend ist die „Weltliteratur“ zum wichtigen Thema der Komparatistik geworden, die danach fragt, was aus der Literatur unter Bedingungen der Globalisierung wird und wie die Komplexität der modernen Welt auch in ganz neuen, transnationalen und postkolonialen Literaturen zum Ausdruck kommt.
Als allgemeine Literaturwissenschaft fragt die Komparatistik nach dem Literarischen der Literatur, nach dem, was die Literatur zur Literatur macht. Das geschieht historisch in Auseinandersetzung mit Traditionen der Poetik und Ästhetik und mit Grundbegriffen wie Nachahmung, Fiktion, Kunst, Wirkung etc. Eine zentrale Rolle spielen auch die modernen Literaturtheorien und ihre Konzepte wie Verfremdung, Poetizität, Diskurs, Narration. Zur Beschäftigung mit der Theorie der Literatur gehört auch eine selbstreflexive Beschäftigung mit Geschichte und Methodik der Literaturwissenschaft: mit Philologie, Hermeneutik und (Post-)Strukturalismus ebenso wie mit der Beziehung der Literaturwissenschaft zu anderen Wissenschaften oder zur Philosophie.
Als vergleichende Literaturwissenschaft betrachtet die Komparatistik Literaturen verschiedener Sprachen und fragt nach gemeinsamen Elementen ebenso wie nach spezifischen Beziehungen. Sie behandelt sprach- und kulturübergreifende Themen und Formen: etwa die literarische Verarbeitung mythologischer Stoffe, charakteristische Motive oder Gattungszusammenhänge, die fast immer Sprachgrenzen und Nationalliteraturen überschreiten. Sie befasst sich mit der Art und Weise, wie verschiedene Literaturen in Beziehung zueinander stehen: durch Übersetzung und Rezeption, durch gegenseitige Beeinflussung, durch Kulturtransfer und durch Bilder, die sie von der jeweils ‚anderen‘ entwerfen. Denn an der Literatur, und zwar besonders, wenn man sie vergleichend betrachtet, kann man erkennen, wie kulturelle Differenzen verhandelt werden: wie Unterschiede zwischen verschiedenen Kulturen, Geschlechtern, Gruppen, Milieus imaginiert, inszeniert und narrativiert werden. Dabei erweisen sich oft Grenzphänomene als besonders aufschlussreich, Literaturen „ohne festen Wohnsitz“, Texte, die im Exil oder in mehreren Sprachen geschrieben werden.
Die Komparatistik vergleicht aber nicht nur Literaturen miteinander. Sie interessiert sich auch für das Verhältnis von Literatur zu anderen Künsten und Medien. Die Beziehung von Wort- und Bildkunst ist ein alter Topos der poetischen Tradition, wie sich Literatur mit den modernen Medien auseinandersetzt – wie sie verfilmt wird und selbst filmische Schreibweisen adaptiert, wie sie sich im Netz verbreitet und sich verändert – das sind wichtige Fragen komparatistischer Forschung. Und auch die Beziehung zu anderen kulturellen Diskursen und Praktiken ist für eine kulturwissenschaftlich offene Komparatistik interessant: Wie verhält sich Literatur zum politischen Diskurs, zum religiösen Ritual, zum wissenschaftlichen Wissen? Tatsächlich ist Literatur als kulturelle Praxis ohne diese Beziehungen kaum verständlich, zugleich stellt sie gerade in der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft eine wichtige Sphäre dar, in der Fragen der Moral, der Ökonomie und der Politik der Kunst imaginiert werden.
Sowohl das Vergleichen als auch die theoretische Reflexion dienen dazu, besser zu verstehen, was Literatur war und ist und wie sie mit anderen kulturellen Feldern zusammenhängt. Nicht jede komparatistische Untersuchung muss vergleichend sein, nicht jede hat eine theoretische Basis. Aber beides übt eine bestimmte Sichtweise ein, mit der man die Literatur in der Welt und die Welt in der Literatur betrachten kann.