Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

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Kulturwissenschaft im Kulturkampf: Genealogie und Grammatik der Eskalation

Tagung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
2.-3. Februar 2024

Der Begriff des Kulturkampfs hat Konjunktur. Jedenfalls ist er in etlichen Auseinandersetzungen schnell bei der Hand: von der öffentlichen Empörung über die militante Aktionen der sogenannten Letzten Generation über polemische Verdammungen von Wokeness bis zu soziologischen Diagnosen über die Spaltung der Gesellschaft in verschiedene Gruppen, die keinen gemeinsamen Nenner mehr fänden, womöglich sogar überhaupt keine gemeinsame Wirklichkeit mehr teilten -- und sich insofern genaugenommen gar nicht mehr ,vernünftig‘ streiten könnten. Ob die Rede von Kulturkämpfen angemessen ist oder ob damit nicht zu hoch gegriffen wird, nicht zuletzt um Aufmerksamkeit zu generieren, ist selbst strittig. Aber schon diese Uneinigkeit, dieser Streit stellt eine Herausforderungen für die Kulturwissenschaften dar: Was bedeutet es für sie, wenn ihr Gegenstand zum Streitobjekt wird? Und was kann sie selbst beitragen, um diesen Streit besser zu verstehen?

Seit den 1990ern, seit den Culture Wars in der amerikanischen Öffentlichkeit und dem Streit über Samuel Huntingtons These vom „Clash of Civililzations“ – zumeist als „Kampf der Kulturen“ übersetzt – werden auch in der deutschen Öffentlichkeit Kulturkämpfe genauso häufig ausgerufen wie abgeleugnet: Es herrschen, so die einen, immer größere Differenzen zwischen sozialen Gruppen und sich wechselseitig verdammenden Milieus, die man nur noch als Kulturkämpfe bezeichnen könne. Schon die Rede vom ‚Kulturkampf‘ sei, so andere, Teil des Problems, eine mal linke, mal rechte Erfindung, die die eigentlichen Konflikte der Gesellschaft verschleiere. Ob es sich nur um eine Masche oder um eine ernstzunehmende Entwicklung handelt, bleibt genauso ungewiss wie die Frage, was Kulturkampf eigentlich bedeuten soll. Das Kompositum verbindet zwei aufgeladene Termini. Kampf evoziert Polemik und Streit bis zur Handgreiflichkeit, dramatische, ja gewaltsame Zuspitzung, aber auch das Schauspiel des Wettkampfs, das Spektakel der Erregtheiten und Empörungen. Die Rede von Kultur ist nicht weniger vieldeutig und suggestiv: Kämpfen hier verschiedene Kulturen miteinander, handelt es sich um einen Streit um ‚die‘ Kultur oder vielleicht auch um einen ‚bloß‘ kulturellen Streit? Geht es um die Hochkultur, um Fragen des Kanons etwa, oder um kulturelle Differenz und Fragen der Anerkennung oder nur um Symbolpolitik? Und ist dieser Streit gut oder schlecht, handelt es sich um notwendige Auseinandersetzungen oder um Zerreißproben der Öffentlichkeit? Sind solche Streitigkeiten ein charakteristisches Phänomen der medial beschleunigten Öffentlichkeiten oder eine unvermeidliche Begleiterscheinung modernen Pluralismus? Sind Kulturkämpfe als Beiträge zur Selbstaufkärung der Gegenwart zu verstehen oder besser als Kritik aufklärerischer Selbstbefangenheit? Sind Kulturkämpfe Ausdruck von Liberalität oder nur die Kehrseite des Triumphs des Liberalismus? Soll man sie ,gewinnen‘, beilegen oder einfach zu Wichtigerem übergehen – aber was wäre das?

Wenn man wenigstens heuristisch ernst nimmt, dass es in diesen Debatten um ‚Kultur‘ geht – was bedeutet das für die Kulturwissenschaft? Hat sich ihr Gegenstand verändert, kann sie etwas beitragen, ist sie gar selbst involviert? International gilt „Cultural marxism“ als Feindbild der neuen und alten Rechten, darunter fällt so ziemlich alles, was Kulturwissenschaften betreibt. Und auch von links hört man immer wieder das Argument, die Identitätspolitik und der Fokus auf Kultur lenke von den eigentlichen Anliegen ab. Müssen Kulturwissenschaften anders werden – und wie? Sollen sie Partei ergreifen (und wenn ja, welche), oder sind sie Richter, Beobachter, Zeugen? Was bedeutet das für ihr Selbstbild als ‚kritische‘ Disziplinen, und wie verhält sich dies zu der schon länger zu beobachtenden Suche nach dem Selbstverständnis und der gesellschaftlichen Relevanz unserer Fächer?

Kulturwissenschaften sind aber nicht nur betroffen, sondern können auch einiges beitragen, um Kulturkämpfe besser zu verstehen, weil es eben auch Kämpfe in und mit der Kultur sind. Welche Narrative organisieren diese Kämpfe, wie werden in ihnen kulturelle Differenzen und Fragen kultureller Hegemonie verhandelt und welche Effekte haben sie? Welche Bilder von Kultur liegen ihnen zugrunde, und welche Imaginationen vom ‚Kampf‘ – und warum sind diese offensichtlich interessant für die einen und befremdlich oder schlicht überflüssig in den Augen der anderen? In diesen Zusammenhang gehört auch die Frage, ob der Ausdruck per se ‚rechte‘ Konnotationen hat oder ob er zum Anlass dienen sollte, sich den Logiken kultureller Polarisierung zuzuwenden, die in der in den Kulturwissenschaften lange dominanten Betonung von Hybridität und Transfer unterbelichtet geblieben sind? Kaum ein anderes Thema polarisiert dabei so sehr wie der Islam, anhand dessen sich Mechanismen der Aus- und Abgrenzung, aber auch offenbar schwer überwindbare Deutungsmuster wie das von Aufklärung versus Religion studieren lassen.

Auch das Pathos und die Vehemenz von Kulturkämpfen wäre mit den Mitteln der Kulturwissenschaften zu analysieren, sind es doch häufig Auseinandersetzungen, in denen es den Beteiligten um alles geht und in denen unverhandelbare Positionen aufeinander treffen. Entsprechend hoch – oder hysterisch, je nach Standpunkt – sind der Einsatz und die Tonlage. Dabei erscheint das Pathos der Beteiligten den einen als Indiz unversöhnlichen und niederen Ressentiments, den anderen gilt es als Ausdruck leidenschaftlichen Idealismus’, der gegen erlittenes Unrecht aufbegehrt und und sich dafür einsetzt, unerfüllte Versprechen einzulösen. Wenn einer der letzten ,Turns’ in den Kulturwissenschaften auf die kulturelle Codierung und Modellierung der Affekte abhebt, bietet die affektive Dynamik von Kulturkämpfen ein vielversprechendes Arbeitsfeld.

Kulturwissenschaften können schließlich auch historische Tiefenschärfe beitragen, die die immer aktualistischen und nicht selten alarmistischen Debatten oft vermissten lassen. So ist zu erinnern, dass der deutsche Ausdruck „Kulturkampf“ einen relativ eindeutigen Ursprung hat: der Bismarksche Kulturkampf, d.h. die Auseinandersetzung zwischen dem preußischen bzw. deutschen Staat und der katholischen Kirche. Der Zusammenhang von neuen Medien und der Zunahme von Kulturkämpfen war schon damals unverkennbar. Wurde der Bismarck’sche Kulturkampf doch v.a. in der massenmedialen Öffentlicheit ausgetragen, in den Zeitschriften und Zeitungen des Zweiten Kaiserreichs. Die heutigen sozialen Medien scheinen den Raum für Debatten zugleich geöffnet und geschlossen zu haben. Sie stehen einerseits für die Möglichkeit der Partizipation, andererseits für beispiellose Enthemmung und Hassrede, zugleich für Pluralisierung wie für Fragmentierung des Diskurses, vor allem aber haben sie ihn in ungeahnter Weise verschärft.

Eine andere Herkunftslinie verweist auf die bereits erwähnten US-amerikanischen Culture Wars, von den universitären Kanondebatten und den wechselseitigen Vorwürfen der Cancel Culture über die „Me Too“- und die „Black Lives Matter“-Bewegung bis zum erbittert geführten Streit um das Recht auf Abtreibung. Gegen die Unversöhnlichkeit und Virulenz dieser Auseinandersetzungen erscheinen einige der deutschen Parallelen (man denke an den Streit ums Lastenrad oder den Spott über den Veggie Day) vergleichsweise harmlos. Dennoch stellt sich die Frage nach Annäherungen, Konvergenzen – und bleibenden Unterschieden. Inwiefern sind Kulturkämpfe immer nur lokal zu verorten und ohne Kenntnis lokaler Traditionen und spezifischer Kontexte – was einmal mehr die Kulturwissenschaften auf den Plan ruft – nicht angemessen zu verstehen? Oder handelt es sich in unserem deutschen Fall z. B. im Gegenteil eher um Importe eines international ge- und verhandelten kulturellen Kapitals, gewissermaßen um kulturelle (oder auch modische) updates, die den Anschluss ans internationale Niveau ermöglichen und damit zugleich einen Beitrag zur Deprovinzialiserung unserer Debatten leisten? Inwiefern sind Kulturkämpfe als globales Phänomen zu betrachten? – Aber vielleicht ist die Annahme eines diskursiven Weltbürgerkriegs selbst wiederum ein Beleg der typischen Überspitzung der kulturkämpferischen Rhetorik?

Mit der rhetorischen Logik, die die Antagonismen von Kulturkämpfen prägen, sind Kulturwissenschaften gut vertraut. Sie können untersuchen, wie jeweils diskursive Ansprüche konstruiert werden, wie etwa Konflikte ausgerufen werden, wie sie aber auch im Namen von etwas ‚Gemeinsamen‘ oder der ‚eigentlichen Probleme‘ abgetan und delegitimiert werden. Wie funktioniert das Sprechen ‚im Namen‘ von etwas, für oder gegen den Kulturkampf? Wann folgt so ein Sprechen einer Logik der Eskalation, wann geht es andere Wege? Lässt sich noch von einem ‚wir‘ sprechen – und wenn das schwierig geworden ist, was bedeutet das wiederum für ‚uns‘ KulturwissenschaftlerInnen?

Wir glauben, dass die Polarisierung öffentlicher und wissenschaftlicher Debatten ein wichtiges  Zeichen der Zeit ist, ohne dass man schon genau weiß, wie sie eigentlich zu beschreiben ist. Wir glauben, dass solche Beschreibungen wesentlich auf die Expertise der Kulturwissenschaft angewiesen sein wird. Die Tagung will nicht aufrütteln, nichts proklamieren und nicht Partei ergreifen, sondern zunächst das tun, was Kulturwissenschaften gut können: Dichte Beschreibungen von historischen wie aktuellen Problemkonstellationen herausarbeiten und deren Ambiguitäten lesbar machen.

Ziel der Tagung ist es, aus unterschiedlichen Disziplinen und Perspektiven systematische Überlegungen anhand historischer wie gegenwärtiger Fallbeispiele zu entwickeln und nach der möglichen ,Grammatik‘ wie der ,Genealogie‘ von Kulturkämpfen zu fragen.

Organisation und Konzeption: Robert Buch und Daniel Weidner

Programm

Ort: Hallischer Saal, Universitätsring 5, 06108 Halle (Saale)

Freitag, 2. Februar

13:00-13:30 Begrüßung

13:30-14.30 Annette Langner-Pitschmann, Frankfurt/M.: „Zeitgeist. Beobachtungen zu einem Kulturkampfbegriff.“

14:30-15.30 Albrecht Koschorke, Konstanz, „Die moralische Ökonomie des Lügens“

Kaffeepause

16:00-17:00 Daniel Weidner, Halle: „Kulturkampf zum ersten. Zur Politischen Theologie kultureller Differenz“

17:00-18:00 Rebekka Klein, Bochum: „Jetzt ist die Zeit zu sagen: ‚Gott ist queer‘. Kirche im Kulturkampf?“


Samstag, 3. Februar

9:00-10:00 Wolfgang Matz, München: Ni droite – ni gauche. Der Fall Frankreich zwischen Dreyfus und Macron

10:00-11:00 Till Kössler, Halle: Gab es ,zwei Spanien‘? Kulturkämpfe und Gesellschaft vor dem Spanischen Bürgerkrieg (1898-1936)

Kaffeepause

11:30-12:30 Daniel Fulda, Halle: Aufklärung = Kulturkampf. Stimmt die Gleichung historisch? Und wenn ja: ginge es anders?

12:30-13:30 Dominik Finkelde, München: Kulturkampf und die ,untilgbare Schuld. Lacan, Arendt und die Folgen“

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