Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

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Lehrveranstaltungen

Wintersemester 2024-25

Naives Erzählen

In diesem Seminar setzen wir uns mit der langen Tradition naiven Erzählens auseinander. Worin liegt diese vermeintliche Naivität? Was macht ihren offensichtlichen Reiz aus? Und woran liegt es umgekehrt, dass sie häufig verdächtigt wird, falsch zu sein, Verstellung, eine Maske? Naivität hat, so scheint es, ein doppeltes Gesicht. Als Unschuld und Unbefangenheit wird sie idealisiert, oft aber im gleichen Atemzug damit als unwiderruflich vergangen vorgestellt; als Unbedarftheit und ‚selbstverschuldete‘ Unwissenheit ist sie hingegen Gegenstand der Distanzierung, wenn nicht gar der kategorischen Abfertigung. Naiv ist, was man auf keinen Fall (mehr) sein möchte; naiv sind die, mit denen man eigentlich gar nicht ‚vernünftig‘ reden kann. Und doch kann Naivität auch Anlass für Wehmut und nostalgische Gefühle sein. Das Phänomen eignet sich also offensichtlich gleichermaßen zur Idealisierung wie zur Ridikülisierung. Der Kurs widmet sich einer Reihe von Texten, in denen Naivität eine zentrale Rolle spielt, ob auf Seiten der Erzählinstanz, der Figuren oder der Darstellung selbst. So scheinen einige Erzählformen und -perspektiven mit dem unvermeidlichen Stigma oder Charme des Naiven verbunden. Man denke beispielsweise an Märchen oder an das einst populäre Genre der Idylle wie überhaupt an die lange Tradition der Bukolik. Bestimmte Erzählperspektiven, so beispielsweise die von Kindern, werden unweigerlich mit Naivität assoziiert. Zu den möglichen Texten, mit denen wir uns befassen werden, gehören Erzählungen von Adalbert Stifter, Franz Kafka und Christine Lavant, Johann Peter Hebels Kalendergeschichten, Prosa von Robert Walser, Marieluise Fleißer und Bohumil Hrabal sowie Ford Madox Fords Roman The Good Soldier (dt. Die allertraurigste Geschichte).

Funktionen und Potentiale der Literatur

Der Kurs situiert Literatur im Verhältnis zu verschiedenen theoretischen Diskursen und Paradigmen, die die  literaturwissenschaftlichen Diskussionen in den letzten Jahrzehnten geprägt haben. Mit der Evolutionären Ästhetik fragen wir nach den Ursprüngen und Funktionen von Kunst und Literatur; die Soziologie des literarischen Feldes stellt die Idee der Autonomie der Literatur auf den Prüfstand und erkundet den Raum der Weltliteratur; aus postkolonialer Perspektive stellt sich die Frage, was ein Klassiker ist, neu; die ,Poetologie des Wissens‘ analysiert die Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen Literatur und Wissen(schaft). Einen weiteren Schwerpunkt  bilden neuere Arbeiten, die sich mit der gegenwärtigen Konjunktur und Krise des Lesens von Literatur befassen, aber auch über die sich daraus für die Literaturwissenschaften ergebenden Herausforderungen und Möglichkeiten nachdenken.

Dieser Kurs ist Teil des Moduls Literatur denken im neuen MA Literaturwissenschaft.

Sommersemester 2024

Zeitgeist und Zeitgefühl im Roman. Kultbücher von Goethes Werther bis heute

Es gibt eine Art von Büchern, mit denen sich Leserinnen und Leser emphatisch identifizieren. Es sind Werke, so sagt man, die nicht nur zu, sondern für ihre Leserschaft sprechen. Damit scheinen sie einen alten Traum der Literatur zu erfüllen, nämlich ihre Rezipienten zu ergreifen, deren Lebensgefühl irgendwie auf den Punkt zu bringen, sie dabei aber auch zu transformieren. Es gibt eine Zeit vor und nach der Begegnung mit solchen Büchern, die die Perspektive auf die Welt und auf das Selbst  zugleich bestätigen und neu ausrichten, und zwar nicht nur bei vereinzelten Lesern, sondern für ganze Generationen. Offenbar gelingt es diesen Werken auf einmalige Weise, Zeitgeist und Zeitgefühl einer Epoche zu reflektieren, auch wenn es mitunter erst eine spätere Generation ist, die sich in diesen Werken entdeckt. Ein Name für diese Art von Werk ist Kultbuch. Kultbücher sind Objekte der Verehrung und der intimen Vertrautheit – bis hin zur Nachahmung ihrer Figuren und deren Habitus. In der europäischen Tradition steht dafür exemplarisch Goethes Werther, mit dem wir uns am Anfang des Kurses beschäftigen werden. Die folgenden Sitzungen widmen sich dann einer Reihe einschlägiger Kultbücher des 20. und 21. Jahrhunderts wie beispielsweise Hermann Hesses Steppenwolf, Ernest Hemingways The Sun Also Rises oder J. D. Salingers The Catcher in the Rye, Françoise Sagans Bonjour Tristesse, Elena Ferrantes Neapolitanische Roman-Tetralogie oder Sally Rooneys Normal People, um nur einige solcher Werke zu nennen. Nicht wenige dieser Romane erzählen Coming-of-Age-Geschichten und so prägen sie oft besonders jugendliche Lesebiographien. In dem Kurs wird es zum einen darum gehen zu verstehen, ob es bestimmte Merkmale sind, welche die emphatische Rezeption dieser Werke ermöglichen, zum anderen aber auch darum, nach ihrer Aktualisierbarkeit und Aneignung durch immer neue Generationen von Leserinnen und Lesern zu fragen.

Voraussetzung der Teilnahme ist die Bereitschaft zur Lektüre längerer Texte, regelmäßige und aktive Mitarbeit sowie die Übernahme eines Impulsreferats und der Moderation der anschließenden Diskussion. Erwartet wird außerdem die Fähigkeit, ein oder zwei der Werke, die wir diskutieren werden, im englischen Original zu lesen.

Zur Einführung: Heiko Christians, ",Werthers Brüder’ oder Was ist ein Kultbuch?", Wirkendes Wort, 55, 2005, 15-27.

Literatur als Provokation

Den Prinzipien der klassischen Rhetorik  zufolge gehört es zu den unabdingbaren Voraussetzungen erfolgreicher Rede, ob literarischer oder nicht literarischer Art, das Publikum für sich einzunehmen. Der rhetorische Ausdruck dafür lautet captatio benevolentiae, Gewinnung des Wohlwollens. Nun ist die moderne Literatur reich an Beispielen für das Gegenteil, also an Texten, die ihre Leserschaft vor den Kopf stoßen, deren Erwartungen enttäuschen, das Publikum aus der Fassung bringen. Das Seminar beschäftigt sich mit einer Reihe von Werken, die in dieser Tradition stehen. Dabei wollen wir fragen, auf welche Art und Weise  diese literarischen agents provocateurs uns irritieren, herausfordern, ja gelegentlich auch überfordern, aber auch, inwiefern der Einsatz von Provokation ein Spiel ist, integraler Bestandteil moderner Ästhetik, oder, ob es umgekehrt darum geht, ganz bewusst und in durchaus ernsthafter Absicht unsere moralischen und politischen Affekte zu mobilisieren. Zu den möglichen Autoren und Autorinnen, mit denen wir uns auseinandersetzen werden, gehören Charles  Baudelaire, Ingeborg Bachmann, Elfriede Jelinek, Ágota Kristóf, Heiner Müller, Jonathan Littell und Michel Houellebecq.

Voraussetzung der Teilnahme ist die Bereitschaft zur Lektüre längerer Texte, regelmäßige und aktive Mitarbeit sowie die Übernahme eines Impulsreferats und der Moderation der anschließenden Diskussion.

Wintersemester 2023-24

Der Wille zur Ohnmacht. Nihilismus und Komik in der Literatur der Moderne

»I would prefer not to«, so lautet der berühmte Satz von Bartleby, der Hauptfigur der gleichnamigen Erzählung Herman Melvilles. In ihm kündigt sich eine moderne Poetik an, die Nihilismus und Komik auf eigentümliche Weise zu verbinden scheint. In Texten von Fernando Pessoa, Robert Walser, Franz Kafka und Samuel Beckett geht es um ausbleibende Ereignisse und vergebliches Warten, um die Nichtswürdigkeiten und Trivialitäten des Alltags, um den Wunsch, zu verschwinden, sich klein zu machen und sich aufgeben zu dürfen, um Verweigerung und Passivität. Es sind Texte, die traurig und komisch zugleich sind, zutiefst pessimistisch, ja nihilistisch einerseits, ironisch und oftmals von aberwitziger Exzentrik, ja Heiterkeit andererseits. Im Mittelpunkt des Kurses stehen, neben einigen kürzeren Werken der genannten Autoren, drei Romane: Walsers Jakob van Gunten, Kafkas Das Schloß und Becketts Molloy. Wir wollen fragen, wie die Texte ihre paradoxalen Effekte erzielen und wie in ihrer Rezeption mit der Spannung zwischen metaphysischem Ernst und metaphysischer Komik umgegangen worden ist. -- Voraussetzung der Teilnahme ist die Bereitschaft zur Lektüre längerer Texte, regelmäßige und aktive Mitarbeit sowie die Übernahme eines Impulsreferats und der Moderation der anschließenden Diskussion.

Forschungskolloquium Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft

Das Forschungskolloquium dient der Vorbereitung und Begleitung der  Masterarbeit: Die TeilnehmerInnen entwickeln ihre thematischen  Interessen, ihre Fragestellung und die Konzeption ihrer Arbeit und  stellen das jeweils zur Diskussion. Darüber hinaus dient das Kolloquium  zur Auseinandersetzung mit neueren Ansätzen der Forschung. Auch  allgemeine Fragen zur Schreib- und Arbeitspraxis sowie zum  wissenschaftlichen Selbstverständnis können hier diskutiert werden – in  diesem Zusammenhang können etwa auch grundlegende Texte über  Literaturwissenschaft gelesen werden.

Was aktuelle Forschungsansätze betrifft, so werden wir uns gleich zu  Anfang des Semesters mit zwei Texten beschäftigen, die zu ihrer Zeit  erhitzte Debatten ausgelöst haben: Christa Wolfs Erzählung "Was bleibt"  und Botho Strauß' Essay "Anschwellender Bockgesang". Am 25. Oktober  findet im Literaturhaus Halle eine Veranstaltung mit Prof. Dr. Jürgen  Brokoff von der FU Berlin statt: "Literatur im Widerstreit. Öffentlichkeit und literarische Intervention, damals und heute"   .  Dort werden wir mit Herrn Brokoff sein Buch über Literaturdebatten  diskutieren, in dessen Mittelpunkt die beiden erwähnten Texte stehen. --  Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen des Forschungskolloquiums sollten  diesen Termin frühzeitig in ihr Semester einplanen.

Sommersemester 2023

Theorien der Lyrik

Der heutige Status der Lyrik ist zwiespältig. Ihr Anteil an der jährlichen literarischen Produktion ist geringfügig; die Zahl derjenigen, die sich für sie interessieren, überschaubar. Zwar vermag sie zuweilen immer noch Skandale auszulösen, wie die jüngste Kontroverse um die Verleihung des Peter-Huchel-Preises an Judith Zander im Februar dieses Jahres bezeugt, aber ihre randständige Position im literarischen System wird kaum jemand bestreiten. Zugleich bildet sie erstaunlicherweise die Textsorte, die wie keine andere auch von Nicht-Profis praktiziert wird. Mit anderen Worten so marginal Dichtkunst gesellschaftlich ist, so weit verbreitet bleibt sie als Praxis, auch wenn dies eine Praxis ist, die weitgehend unterhalb der öffentlichen Aufmerksamkeit verbleibt.

Auf ein andere Art des Nach- und Fortlebens der Lyrik, als Praxis, hat vor wenigen Jahren die Verleihung des Literaturnobelpreises an Bob Dylan aufmerksam gemacht. Ob in Rhythm and Blues, Hip Hop oder Rock, hier begegnet uns ein lyrisches Sprechen von ungleich größerer Reichweite und Resonanz als jegliche andere Literaturgattung der Gegenwart. Ein anderes Indiz dafür: seit geraumer Zeit gibt es im Feuilleton der Frankfurter Allgemeine Zeitung neben ihrer renommierten, der Lyrik gewidmeten Rubrik ›Frankfurter Anthologie‹ eine ›Pop Anthologie‹, die Kommentare und Interpretationen von Pop Songs bietet.

Lyrik ist uns aus unterschiedlichen Kontexten vertraut und sie bleibt uns doch oft fremd. Ihr Potential, uns anzusprechen und zu berühren, und ihre vermeintliche Unzugänglichkeit und Verschlossenheit scheinen Hand in Hand zu gehen. Der Kurs nähert sich der mehrfachen Ambivalenz der Lyrik nicht über einzelne Gedichte oder bestimmte Autoren, sondern über eine Reihe theoretischer Auseinandersetzungen und exemplarischer Lektüren, die uns dazu anregen, über die Voraussetzungen und Eigenart von Lyrik, ihre Mittel und ihren Zweck nachzudenken. Die Ansätze, denen wir uns dafür zuwenden, reichen von philosophischen Annäherungen wie Adornos kritischer Bestandsaufnahme in seiner »Rede über Lyrik und Gesellschaft« oder Gadamers hermeneutischen Reflexionen über das Verhältnis von »Gedicht und Gespräch« über einschlägige ältere literaturwissenschaftliche Beiträge wie Käte Hamburgers »Logik der Dichtung« oder Hugo Friedrichs »Die Struktur der modernen Lyrik« bis hin zu vergleichsweise neueren theoretischen Arbeiten wie Julia Kristèvas (post-)strukturalistische »Revolution der poetischen Sprache« oder Marjorie Perloffs Engführung von moderner Lyrik und Wittgensteins Sprachphilosophie.

Voraussetzung für die Teilnahme ist neben Interesse an Lyrik, die Bereitschaft, sich auf theoretische Texte einzulassen, sowie keine Scheu davor, auch englischsprachige Forschungsliteratur zu lesen.

Lektüreempfehlungen:

Heinz Schlaffer, Geistersprache. Zweck und Mittel der Lyrik, Stuttgart: Reclam 2015.

Jonathan Culler, Theory of the Lyric. Cambridge, Mass.: Harvard Univ. Press 2015.

Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz

Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz

Döblins Berlin Alexanderplatz (1929) ist viele verschiedene Dinge auf einmal. Ein modernes Epos und ein Großstadtroman; ein Buch, das Massenmedien und Massenkultur in sich aufgenommen hat; ein virtuoses Spiel mit mythologischen Narrativen und Figuren; eine Art medizinisch-psychiatrischer Fallstudie. Die Vielfalt des Werks spiegelt sich auch in den vielen verschiedenen Diskursen und Sprachregistern, die in ihm zum Einsatz kommen. Wir hören die Stimmen der Wissenschaft, der Justiz und Verwaltung, von Politik und Kommerz, der Reklame, des Kinos und der Schlagermusik; wir hören das Berlinerisch der Proletarier und Kleinbürger, das Argot des Nachtlebens und des kriminellen Milieus, in das Franz Biberkopf, die Hauptfigur, hineingerät, und schließlich sind da die traumatisierten Stimmen des Ersten Weltkriegs, die in Franz’ Kopf herumgeistern.

Berlin Alexanderplatz ist von epischer Breite und sein Ehrgeiz besteht in nichts weniger, als ein literarisches Panorama der Großtstadt vor uns auszubreiten. Aber solch vermeintlichem Anspruch auf Totalität und Ganzheit steht die polyphone und kaleidoskopische Struktur des Werks entgegen, die die besondere Faktur des Romans ausmacht und maßgeblich zu seiner Wirksamkeit beiträgt. Das Werk gilt als ›Klassiker‹ der Moderne, partizipiert aber wie sein Autor gleich an mehreren ästhetischen Programmen. Döblin stand ursprünglich dem Naturalismus nah; er trug wesentlich zur Verbreitung des italienischen Futurismus in Deutschland bei; seine Arbeit wurde dem literarischen Expressionismus und dem Dadaismus zugeordnet, er selbst bekannte sich zu einem Schreiben im Zeichen der Neuen Sachlichkeit, zwischen dem Dokumentarischen und Fiktion. Zudem wurde Berlin Alexanderplatz insbesondere in die Nähe von James Joyce’ Ulysses, aber auch von John Dos Passos’ Manhattan Transfer gerückt.

Im Mittelpunkt des Kurses steht die Lektüre des Romans. Wir lesen außerdem einschlägige poetologische Beiträge Döblins sowie eine Reihe literaturwissenschaftlicher Auseinandersetzungen mit dem Roman.

Berlin Alexanderplatz wurde mittlerweile dreimal als Film adaptiert. Das erste Mal schon 1931, dann 1980 als Fernsehserie von Rainer Werner Fassbinder und zuletzt 2020 von Burhan Qurbani, einem deutschen Regisseur afghanischer Herkunft, der das Geschehen in die Gegenwart versetzt und den Part von Franz Biberkopf von einem afrikanischen Flüchtling, Francis, übernehmen lässt. Je nach Interesse und verfügbarer Zeit werden wir uns auch mit diesem filmischen ›Nachleben‹ des Romans beschäftigen.

Bitte anschaffen: Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz. Fischer Taschenbuch

Wintersemester 2022-23

Literatur und Kindheit

Der französische Kulturhistoriker Philippe Ariès verortet die ›Entdeckung der Kindheit‹ in der Frühen Neuzeit. Sie wird von da an als Lebensalter sui generis verstanden und nicht mehr nur als Übergang zum Erwachsensein. Ariès entwickelt seine These anhand der sich wandelnden Ikonographie des Kindes sowie in Hinblick auf das philosophische und pädagogische Interesse, das dem Kind ab dem 17. Jahrhundert verstärkt zuteil wird. In den Mittelpunkt literarischer Werke treten Kinder erst um 1800.

Die literarische Arbeit am Bild der Kindheit im 19. und vor allem im 20. Jahrhundert ist Thema dieses Seminars. Welche Topoi und narrativen Muster bemühen literarische Texte, um Kindheit und Kinder darzustellen? Welche erzählerischen Möglichkeiten bietet das Thema Kindheit der Literatur? Inwiefern wird Kindheit kritisch, inwiefern wird sie affirmativ eingesetzt? Der Topos Kindheit ist bereits vor seiner Entdeckung durch Theologen und Pädagogen utopisch aufgeladen -- Kindheit als verlorenes Paradies -- aber der Schritt, umgekehrt im Kind die Verkörperung ungebändigter und bedrohlicher Wildheit -- das ›böse‹ Kind -- zu sehen, ist nicht weit. Auf der einen Seite also die Unschuld und Unbefangenheit des kindlichen Blickes, auf der anderen Seite die vermeintliche Amoralität und Widerspenstigkeit kindlicher Subjekte. Kindheit kann als Gegenbild zu den Zwangsmechanismen und Formatierungen moderner Zivilisation entworfen werden, als Inbegriff von Alterität und Devianz, aber auch als Paradigma der emanzipativen Versprechen der Moderne.

Wir nähern uns dem Thema vor allem über Erzählungen, Romane und autobiographische Texte. Zu den möglichen Autorinnen und Autoren, die wir behandeln wollen, gehören Adalbert Stifter, Gottfried Keller, Ellen Key, Marcel Proust, Walter Benjamin, Christine Lavant, Natalie Sarraute und Ingeborg Bachmann.


Bedingung für die Teilnahme ist die Bereitschaft zu regelmäßiger und aktiver Mitarbeit, die die sorgfältige Lektüre der Texte voraussetzt, sowie die Übernahme einer Sitzungsmoderation.

Zur Einführung: Philippe Ariès, Geschichte der Kindheit, München: Hanser 1975.

Grundlagen der neueren deutschen Literaturwissenschaft: Literatur der Jahrhundertwende

Der Grundlagenkurs befasst sich mit der Schwellenzeit um 1900 als Epoche der sich formierenden literarischen Moderne. Die Jahrhundertwende steht im Zeichen unterschiedlicher Richtungen und Strömungen. Dabei reicht das Spektrum von Naturalismus und Symbolismus über Ästhetizismus und ›l’art pour l’art‹ zu einem von der Psychologie, aber v. a. auch der Malerei der Zeit inspirierten Schreiben, das man impressionistisch nennen könnte, und dem sich anbahnenden Expressionismus.

Anhand einer Reihe exemplarischer Werke befassen wir uns mit diesen Tendenzen und mit den widersprüchlichen kulturellen Paradigmen, die das Fin de Siècle prägen, so beispielsweise der Idee der Dekadenz auf der einen, der des Vitalismus’ auf der anderen Seite. Zu den Werken, die wir analysieren und diskutieren wollen, gehören Texte von Lou Andreas-Salomé, Hermann Bahr, Hugo von Hofmannsthal, Eduard von Keyserling, Arthur Schnitzler und Georg Trakl, um nur einige zu nennen.

Ein besonderer Schwerpunkt des Kurses liegt auf der Erarbeitung von Grundbegriffe der Literaturwissenschaft. Zu diesem Zweck lesen wir einige einschlägige Studien zu den Werken, mit denen wir uns beschäftigen, um unterschiedliche Zugänge und Perspektiven auf literarische Texte kennenzulernen. Je nach Interesse, Zeit und Verfügbarkeit können wir zudem einen Blick auf spätere literarische Reprisen sowie ausgewählte filmische Adaptationen des Fin de siècle werfen, gedacht ist an Luchino Viscontis Verfilmung von Thomas Manns »Der Tod in Venedig« oder Stanley Kubricks »Eyes Wide Shut«, der auf Schnitzlers »Traumnovelle« basiert.

Zur Einführung:

++Dorothee Kimmich, Tobias Wilke, Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2006.

++Peter Sprengel, Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900-1918: von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. München: C. H. Beck, 2004.

++Heinrich Bosse, Ursula Renner, Hg., Literaturwissenschaft: Einführung in ein Sprachspiel, Freiburg: Rombach, 2002.

Sommersemester 2022

Aus dem Innern der Unruhe. Psychologisches Erzählen in der Moderne

Der Schauplatz modernen Erzählens, so könnte eine These lauten, ist das Bewusstsein – dieses so umfassende wie allgegenwärtige und doch so schwer beschreibbare Medium unseres Weltzugangs. Die Beschreibbarkeit von Bewusstsein war das große Thema der um die Jahrhundertwende entstehenden Phänomenologie. Mit den Schwierigkeiten und Herausforderungen einer solchen Beschreibung beschäftigen sich etwa zur selben Zeit eine Reihe von Werken, die zu Klassikern der Moderne avancieren sollten. Ihr Interesse an der Darstellung von Bewusstseins- und Wahrnehmungsprozessen überschreitet und entgrenzt die Koordinaten romanhaften Erzählens. Radikaler wird diese Bewegung noch dadurch, dass die Literatur, anders als phänomenologische Beschreibungsversuche, mit dem Bewusstsein auch das Unbewusste in den Blick nimmt, das etwa zur gleichen Zeit von der neuen Wissenschaft der Psychoanalyse erkundet wird. Nicht zufällig bildet das Syndrom der inneren Unruhe den gemeinsamen Nenner einer Vielzahl von Romanen und Erzählungen, von denen wir eine kleine Auswahl in diesem Kurs lesen und diskutieren werden, darunter beispielsweise Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906), Marcel Prousts Eine Liebe von Swann (1913), Arthur Schnitzlers »Fräulein Else« (1924), Franz Kafkas »Der Bau« (1928), William Faulkners As I Lay Dying (1930) und Irmgard Keuns Das kunstseidene Mächen (1932).

Dies ist der Nachfolgekurs zu »Der Psychologische Roman. Anfänge und Entwicklung« (WS 2021-2022). Der Vorgängerkurs ist jedoch keine Teilnahmevoraussetzung. Bedingung für die Teilnahme ist die Bereitschaft zu regelmäßiger und aktiver Mitarbeit, die die sorgfältige Lektüre der Texte voraussetzt, sowie die Übernahme einer Sitzungsmoderation.

Zur Einführung:

++Lydia Ginzburg, On Psychological Prose. Princeton, NJ: Princeton UP, 1991.

++Dorrit Cohn, Transparent Minds. Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction. Princeton, NJ: Princeton UP, 1978.

Kafka & Co.

Franz Kafka läßt sich zwar in die literaturhistorischen Koordinaten seiner Zeit eintragen, gilt aber gleichwohl als singuläre Erscheinung. Zu den möglichen Richtungen, die sich in Kafkas Werk finden, zählen der Symbolismus und die Dekadenz des Fin de siècle, ein an Bewussteinsprozessen und Wahrnehmung interessiertes, impressionistisches Schreiben in der frühen Prosa, später dominieren expressionistische Themen und Verfahren sowie eine neusachliche Faszination für Technik und bürokratische Rationalität. Trotz dieser vielfältigen Bezüge besteht, wie gesagt, eine Tendenz, Kafka als Solitär, als einziges Exemplar eines Schreibens sui generis zu betrachten. Dieser vermeintlichen Ausnahmestellung soll hier aus einer anderen Richtung entgegengearbeitet werden. Denn ›Kafka‹, der Name und das Werk, stellt ein Paradigma für das Verständnis moderner und spätmoderner Literatur überhaupt dar, dessen Charakteristika in zahlreichen Ausprägungen zu finden sind. Der Kurs stellt sich die Aufgabe, dieses Paradigma, seine Abwandlungen und Anverwandlungen, näher zu bestimmen. Dabei wechseln wir zwischen Lektüren einiger einschlägiger Erzählungen Kafkas und seiner Kurzprosa und derjenigen einer Reihe von Vorwegnahmen, Parallelen und Reprisen. Zu den möglichen Vorläufern gehören die Russen Nicolai Gogol und Anton Čechov der dänische Schriftsteller Søren Kierkegaard und der Amerikaner Herman Melville; zu den Zeitgenossen zählen beispielsweise der Schweizer Robert Walser, der Chinese Lu Xun oder der Portugiese Fernando Pessoa. Hier wie auch bei den nachfolgenden ›Erben‹ Kafkas soll es jedoch keineswegs, das sei ausdrücklich betont, um belegbare Einflüsse oder Filiationen gehen, sondern um eine Familienähnlichkeit, die mit den Schlagwörtern kafkaesk oder absurd nur bedingt erfasst wird. Zu den anderen möglichen ›Verwandten‹ und Nachfahren Kafkas sind, um nur einige prominente Beispiele zu nennen, der Ire Samuel Beckett, der Argentinier Jorge Luis Borges, die Österreicherin Ilse Aichinger, der südafrikanische Literaturnobelpreisträger J. M. Coetzee sowie die US-amerikanerische Autorin Lydia Davis zu rechnen. Aus Zeitgründen werden wir uns auf eine begrenzte Auswahl aus dieser vielköpfigen ›Company‹ beschränken.

Wintersemester 2021-2022

Der psychologische Roman: Anfänge und Entwicklung

Der moderne Roman wird oft als Reaktion auf den Erfolg realistischen Erzählens im 19. Jahrhundert begriffen, dessen Regeln und Grundsätze er aufkündigt. Der Roman des 19. Jahrhunderts zeichnet sich indes nicht allein dadurch aus, dass er sich sozialen Lebenswelten zuwendet, für die es bis dahin keinen Platz im System der literarischen Gattungen gab. In zentralen Werken der Epoche rücken die subjektive Verfasstheit der Figuren und ihre Beziehungen in den Vordergrund, wogegen die historischen und sozialen Bedingungen des Geschehens an Bedeutung verlieren. Lassen sich die hier interessierenden ›psychologischen‹ Romane, im Englischen auch oft als novels of manners bezeichnet, nur noch bedingt dem Paradigma realistischen Erzählens zuordnen, so unterscheiden sie sich in ihrer ›Psychologie‹ zugleich deutlich von der emphatischen Innerlichkeit romantischer Subjektivität. Gefühle, Affekte, Begierden werden selten introspektiv behandelt, sondern eher dialogisch und über Konstellationen in den Blick genommen. Anders gesagt interessiert sich der Kurs dafür, wie aus der novel of manners der moderne psychologische Roman hervorgeht, in dem schließlich Bewusstsein selbst zum primären Schauplatz und Gegenstand des Erzählens wird. Zu den Autoren, die wir behandeln wollen, zählen Madame de Lafayette, Goethe, Jane Austen, Stendhal und Henry James. Ein Nachfolgekurs wird sich ›Bewusstsein und Erzählen‹ im Roman des 20. Jahrhunderts widmen.

Zur Einführung:

++Lydia Ginzburg, On Psychological Prose. Princeton, NJ: Princeton UP, 1991.

++Dorrit Cohn, Transparent Minds. Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction. Princeton, NJ: Princeton UP, 1978.

Rhetorik, Poetik, Ästhetik

Der Kurs dient der Einführung in die Grundlagen des literaturwissenschaftlichen Studiums anhand von drei diskursiven Traditionen – Rhetorik, Poetik und Ästhetik –, denen die moderne Literaturwissenschaft und die Theorie der Literatur viele ihrer zentralen Begriffe und Fragen verdanken. So stellt die Poetik des Aristoteles ohne Zweifel das nachhaltigste Paradigma für das Nachdenken über Literatur und das Verständnis literarischer Werke dar. Die antike Rhetorik lehrte die Voraussetzungen für wirkungsvolles Reden und bildete über einen langen Zeitraum, bevor sich Wissen in die modernen Wissenschaften ausdifferenzierte, das Kernstück literarischer Bildung und kommunikativer Kompetenz. Die Ästhetik wandte sich im 18. Jahrhundert als eine der neuen Wissenschaften der Erkenntnis sinnlicher Wahrnehmung und im Besonderen der Frage nach dem Schönen und nach dem ästhetischen Urteil zu.

Wir lesen einige Schlüsseltexte, denen Studierende im Lauf ihres Studiums immer wieder begegnen werden und deren Kenntnis deshalb von unerlässlichem Wert für dieses Studium ist. Zum Programm zählen: die Poetik des Aristoteles, Kritik und Verteidigung der Rhetorik (Plato, Quintilian, Pseudo-Longinus) sowie ausgewählte Beispiele klassischer Redekunst (Gorgias, Thukydides/Perikles, Cicero) und Auszüge aus den Ästhetiken des 18. Jahrhunderts (Baumgarten, Kant, Schiller).

Sommersemester 2021

Realismus und Resignation. (Post-)Realistisches Erzählen im späten 19. Jahrhundert

Spätestens seit Flaubert ist Desillusionierung eines der zentralen Themen des realistischen Romans. So enden Madame Bovarys romantische Träumereien in der Katastrophe; die Ambitionen Frédéric Moreaus in L’Education sentimentale (Erziehung des Herzens) scheitern an der Kontingenz des Lebens, aber auch an der Mittelmäßigkeit des ›Helden‹. Der Kurs fragt nach den politischen, sozialen und kulturellen Hintergründen für diese Tendenz, aber auch, inwiefern Desillusionierung nicht nur auffällig häufig Sujet realistischen Erzählens ist, sondern ebenso auf der formalen oder erzähltechnischen Ebene als das Programmwort von Realismus angesehen werden kann. Oder steht sie gerade umgekehrt nicht eigentlich quer zu dessen Anspruch, Wirklichkeit darzustellen, also bei Lesern die Illusion (!) zu erzeugen, dass Dargestellte vor Augen zu haben und mitzuerleben? Wir lesen eine Reihe meist kurzer Romane bzw. längerer Erzählungen von Autoren wie Gustave Flaubert, Theodor Fontane, Henry James, Joseph Conrad und Arthur Schnitzler. Darüber hinaus soll es um die paradigmatische Rolle des realistischen Romans im Verständnis dessen, was Literatur überhaupt ist, gehen. Dazu lesen wir einschlägige komparatistische Arbeiten von Erich Auerbach, Roland Barthes, Thomas Pavel, Guido Mazzoni.

Aphorismus, Kalendergeschichte, Feuilleton. Reprisen der kleinen Form in der Moderne

Der Kurs befasst sich mit der Tradition der kleinen Form und ihrer Wiederkehr in der Moderne. Unter den Sammelbegriff Kleine Formen fallen eine Vielzahl ähnlicher und doch heterogener Texte so beispielsweise die Prosaminiaturen Franz Kafkas und Robert Walsers, die Städtebilder Walter Benjamins und Siegfried Kracauers, Bertolt Brechts Kalendergeschichten, Theodor W. Adornos Denkbilder wie später die ironische Kurzprosa eines Thomas Bernhard, Ror Wolf oder Reinhard Lettau. Bei aller Unterschiedlichkeit hatten die vormodernen und frühneuzeitlichen Vorläufer der Kleinen Form wie Maxime, Aphorismus, Kalendergeschichte, Tableau und Feuilleton eine lebensweltliche, orientierende Funktion. Ein Teil dieser Vorläufer verweist zurück auf die Tradition der moralistischen Weisheitsliteratur (La Rochefoucauld, Gracián, Montaigne), die Ratschläge und lebenspraktische Anweisungen erteilt, der andere ist Ausdruck und Reaktion auf die neue Wirklichkeit der Stadt, inklusive der neuen Medien, die für viele der hier interessierenden Formate die Voraussetzung bildeten (Louis-Sébastien Mercier, Charles Baudelaire, Heinrich Heine). Der Kurs fragt, wie die Kleinen Formen ›funktionieren‹ und interessiert sich insbesondere für ihren Status zwischen der vormaligen lebenspraktischen und didaktischen Orientierung und ihrer spielerischen und experimentellen Reprise in der Moderne.

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