Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Weiteres

Login für Redakteure

Call for Papers: Kritik der Religion. Literatur als Medium der Religionskritik

11. und 12. September 2025, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Organisiert von Florian Scherübl und Daniel Weidner

Religionskritik ist heute ein wenig aus der Mode gekommen – und das ist nicht neu. Schon Karl Marx´ Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie beginnt mit ihrer Verabschiedung: „Für Deutschland ist die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt“. Marx setzt allerdings fort „und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik“. Dabei ist „Voraussetzung“ hier nicht nur im historischen Sinn zu verstehen. Kritik überhaupt gibt es nach der Kritik der Religion und sie ist ‚wie‘ die Kritik der Religion. Dabei treten Kritik und Religion in ein komplexes Verhältnis. Letztere ist selbst nicht einfach Gegenstand der Kritik, sondern so etwas wie ihr Vorläufer: Religion ist für Marx nicht nur „Opium des Volkes“, sondern auch „Seufzer der bedrängten Kreatur“. „Kritik der Religion“ ist damit nicht nur Kritik an der Religion, sondern auch Kritik der Religion am Elend. So entsteht ein komplexes Feld von Verschiebungen und Inversionen. In ihm situieren sich die verschiedenen Metaphern der Kritik: das Opium und der Seufzer, später der Fetischismus und die verkehrte Welt.

Die diesjährige Summer School Literatur und Religion nimmt dieses Feld zum Anlass, um über das Verhältnis von Religion und Literatur im Zeichen der Kritik nachzudenken. Wir laden junge ForscherInnen ein, ihre Projekte – Dissertationsvorhaben, Postdoc-Projekte und andere Ideen – in diesem Kreis gemeinsam zu diskutieren. Dabei soll vom doppelten Genitiv ausgegangen und eine Kritik an der Religion ebenso wie die Kritik durch die Religion thematisiert werden. Hier interessieren die rhetorischen Inversionen, Kontrapositionen, Metaphern und Narrative, mit denen Kritik gedacht und erzählt wird. Dabei ist davon auszugehen, dass das Verhältnis von Schein und Wirklichkeit, von Fiktion und Realität auch eminent etwas mit der Literatur zu tun hat oder umgekehrt: dass sich Literatur in der Konstellation von Religion und Kritik produktiv lesen lässt. Dass Religionskritik Sache der Literatur sein kann, mit Stil- und Formfragen zusammenfällt und gar zum Medium von Religionskritik werden kann, deutet Ende des 19. Jahrhunderts jedenfalls Friedrich Nietzsches Diktum aus der Götzen-Dämmerung an: „Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben…“

Tatsächlich hatten literarische Texte und Praktiken schon immer etwas mit der Kritik der Religion zu tun. Karnevalistische Parodien religiöser Texte und Rituale begleiten diese immer schon und stehen neben religiös grundierten Satiren der Narrheit der verkehrten Welt oder neben Narrativen wie dem Exodus oder der kommenden Erlösung, an die eine Kritik der bestehenden Verhältnisse anschließen kann. Im Welttheater verbinden sich nicht nur Ritual und Spiel, sondern ihre reflexive Verdoppelung kann auch Distanz zur Religion oder zum Theater erzeugen. Und gerade in der Neuzeit wandert eine einmal religiös motivierte Idolatrie-Kritik dann auch in die Poetik ein und verkompliziert diese durch die Zweifel an der Mimesis, durch mystische Impulse, durch allegorische Verrätselung oder umgekehrt durch die kalkulierte Exuberanz der Bilder und Worte. Spätestens mit der Aufklärung verdoppelt sich dabei auch die Kritik an der Religion in eine Kritik am Aberglauben einerseits, der die Zeichen für die Sache nimmt, am Enthusiasmus andererseits, der ganz auf Zeichen verzichten will – und es versteht sich, dass beide Kritiken und erst recht ihre Verbindung zu komplexen semiotischen und ästhetischen Reflexionen führen.

Mit der modernen Literatur werden dann auch Begriff und Konzept der ‚Kritik‘ zentral für das Literatursystem – mit auffälliger Nähe zur Religion, sind doch die kritischen Kontroversen bei Lessing, Heine und sogar noch Karl Kraus oft auch religiöse Kontroversen. Auch neu entstehende Formen lassen sich im Spannungsfeld der Kritik der Religion lesen. Der Bildungsroman enthält fast immer auch eine religiöse – oder antireligiöse – Entwicklungsgeschichte; das historische Erzählen wie auch das Drama greifen breit auf religiöse Stoffe zurück und unterziehen diese teilweise der Kritik oder nutzen sie auch dazu, die Gegenwart zu kritisieren wie bei Hebbel, Droste-Hülshoff oder Hofmannsthal; die Lyrik schafft ihre eigenen Epiphanien, so bei Benn, Rilke oder Baudelaire, und positioniert sich damit auf unterschiedliche Weisen zur Religion wie zur Kritik. Für manche wird die Dichtung selber zu einer Art Religion mit allem, was dazugehört: dem Dienst am Wort und der Verkündigung, der frommen Andacht und der Sektenbildung wie etwa im George-Kreis.

Ein literarisch geschulter Blick erlaubt so auch, die Geschichte der Religionskritik neu zu lesen. Das betrifft etwa die komplexen Schreibweisen dieser Kritik: das Spiel mit den Masken, aber auch die Rhetoriken der Selbstermächtigung, die mit ihr einhergehen sowie der Konstruktion von Traditionen, die ihre eigenen Mythen und Heroen haben. Überdeterminiert ist diese Geschichte auch dadurch, dass das Konzept der Religion selbst ein kritisches ist: Es entsteht in der Aufklärung aus der Kritik an kirchlichen und konfessionellen Partikularismen, ist aber vielleicht nicht so neutral und interesselos wie es scheint. Noch der Tod Gottes, wie Hegel und Nietzsche von ihm sprechen, ist eine christliche Figur, die keineswegs neutral ist, und jüngst betonen eine postsäkulare Kritik oder Dekonstruktionen des Monotheismus, dass auch die Unterscheidung von Religiösem und Säkularem, mit der die Religionskritik operiert, eine westliche hegemoniale Konstruktion ist. Welche Rhetoriken, Bilder und Narrative in diesen Diskursen entwickelt worden sind und wie sich diese in literarische Texte einschreiben, ist ein wichtiges Thema unseres Forums.

Aber auch die Kritik durch die Religion ist oft literarisch interessant und bringt rhetorisch wirksame Bußpredigten ebenso hervor die Reflexionen über die ‚Dialektik‘ religiöser Mitteilung. Auch lässt sich das oben erwähnte rhetorische Feld der Kritik – das ja selbst, bei Feuerbach, zu weiten Teilen der Inversion der lutherischen Theologie entstammte –, auch weiter hochschrauben zu einer radikalen theologischen Religionskritik, die sich nun gegen das ‚bürgerliche‘ Verständnis von Religion richtet, das sie selbst zum „Unglauben“ erklärt, zum „Gipfel der Humanität – im bedrohlichen Doppelsinn des Wortes“ (Karl Barth). Schon bei Marx und dann wieder in den verschiedenen kritischen Theorien des 20. Jahrhunderts wird diese Metakritik dann auch gegen die Kultur als solche in Anschlag gebracht wird – man denke etwa an Paul Tillichs Theologie der Kultur, an den frühen Siegfried Kracauer oder an Walter Benjamins und Theodor W. Adornos Hinweise auf das Messianische. Wenn die Religion, so Feuerbach, der „Traum“ des menschlichen Geistes ist, dann kann man vielleicht die Phantasmagorien der Spätmoderne ebenfalls nur verstehen, wenn man sie religiös betrachtet und religiös kritisiert.

Von hier aus lässt sich die Frage nach der Kritik der Religion auch umdrehen und nach der Religion der Kritik fragen: Was glaubt eigentlich die Kritikerin, woraus speist sich der Fanatismus des Kritikers? Gehören sie zu einer oder gar zu zwei Sekten? Welche Affekte und gegebenenfalls Ressentiments treiben die Kritik an, Aggression oder Abwehr, Gerechtigkeit oder Wille zur Macht, Mistrauen, Unbehagen? Welche Sprechpositionen werden dabei eingenommen und was macht das jeweils möglich? Bleibt die Kritik das Credo der Moderne oder hat sich mit der Religion auch die Kritik erledigt und ist nun missionslos, nur noch Gespenst ihrer selbst? Und wenn sich aktuell die Zeichen mehren, dass die Kritik ihren Glauben an sich verloren hat, wie Bruno Latour nahelegte: Was folgt darauf?
In der Summer School werden wir zwei Tage gemeinsam in intensiver Diskussion verbringen. Wir lesen einige vorher zirkulierte Texte aus dem Bereich der Kritik der Religion. Der Schwerpunkt besteht in der Diskussion der eingereichten Forschungsprojekte in einer kritischen, aber wertschätzenden und konstruktiven Atmosphäre.

Interessierte junge ForscherInnen sind eingeladen, Exposés ihrer Forschungsprojekte (ca. 5 Seiten) und/oder ein Vortragsabstract (ca. 2 Seiten) einzureichen. Bitte schicken Sie Ihr Exposé oder Abstract sowie ein CV oder ein paar Zeilen zu Ihrem akademischen Werdegang bis zum 17.5. an . Die Auswahl der TeilnehmerInnen erfolgt bis Ende Mai

Die Kosten für die (innerdeutsche) Reise sowie den Aufenthalt werden erstattet. Bei Interesse kann der Beitrag in einem gemeinsamen Band oder Heftschwerpunkt veröffentlicht werden.

Zum Seitenanfang