Politische Theologie. Genealogien, Konstellationen, Figuren
Übersicht
Workshop im Rahmen des Forschungsforums »Literatur und Religion« für Nachwuchswissenschaftler:innen
Universität Halle, 27.-28. Juli 2023
Das dritte Treffen des Forschungsforums »Literatur und Religion« für Nachwuchswissenschaftler:innen an der Universität Halle widmet sich dem Thema Politische Theologie. Lange ein Spezialgebiet der Mediävistik oder der Geschichte der Gegenaufklärung ist politische Theologie in den letzten Jahrzehnten zu einem zentralen Diskurs in den Geistes- und Kulturwissenschaften geworden.
Sie verhandelt die grundlegende Annahmen über das Verhältnis von politischer Legitimität und normativer Ordnung und untersucht dabei auch das Fort- und Nachwirken religiöser Denkfiguren, Diskurse und Praktiken. Literatur ist dabei nicht nur ein, wenn nicht der zentrale Echoraum religiöser Sinngebungen und Autorisierungen, sondern darüber hinaus auch ganz konkret der Ort, an dem Theologie und Politik, Heil und Herrschaft aufeinanderstoßen und immer wieder neu konfiguriert werden müssen. Dazu gehören nicht nur Herrschaftsmythen, sondern auch Opferlegenden, Erlösungsbilder, Figuren der Stellvertretung, Imaginarien der Gemeinschaft. Im Workshop lesen die Teilnehmenden gemeinsam einige Grundlagentexte zur Politischen Theologie und diskutieren ihre Forschungsprojekte mit Bezug auf das Spannungsfeld.
Politische Theologie ist ein hybrider Diskurs, vielfältig in seinen Elementen und Ausprägungen, ambig und überderminiert in seinen Aussagen. Man versteht unter ihr sowohl Verhältnisbestimmungen von Religion und Politik im Allgemeinen als auch jeweils bestimmte Theologien oder Politische Theorien. Heuristisch und historisch kann man dabei verschiedene Formen unterscheiden: eine Politische Theologie im engen und verengten Sinn, die diesen Begriff mit Carl Schmitts berühmter und einflussreicher Schrift von 1922 identifiziert; eine Politische Theologie mittlerer Reichweite, die Schmitt im Kontext anderer moderner Diskurse und Denker:innen wie etwa Karl Barth, Walter Benjamin, Ernst Kantorowicz oder Simone Weil betrachtet; und schließlich einer politischen Theologie in einem weiten Sinne, die die ganze Bandbreite der Konfiguration von Herrschaft und Heil auch jenseits doktrinärer Diskurse untersucht, etwa in der narrativen und lyrischen Überlieferung der Bibel. Ganz ähnlich ist auch auf der formalen Ebene zu unterscheiden zwischen der engen Konzentration auf höchst spezifische Argumente des Staatsrechts über allgemeine Überlegungen zur Politik bis zu literarischen Figurationen und Narrativen.
Gerade in dieser Hybridität besteht, so die zentrale und zu prüfende These des Workshops, eine Art Wahlverwandtschaft zwischen Politischer Theologie und Literatur. Politische Theologie arbeitet immer schon mit Setzungen und Fiktionen, sie braucht Erzählungen und Anschauungen, sie beruht auf Bildern und Übertragungen – sie braucht Literatur und rekurriert auch dauernd auf sie, wie etwa die Präsenz von Kafka in der jüngeren Diskussion über den Ausnahmezustand zeigt. Umgekehrt lassen sich literarische Texte aber auch von der politischen Theologie her produktiv befragen: Wie legitimieren solche Texte bestimmte Politiken und welche Legitimität nehmen sie selbst in Anspruch? Welche Antagonismen und Gegenüberstellungen setzen sie voraus, welche ver- oder entschärfen sie, welche Versöhnungs- und Erlösungsversprechen entwerfen sie? Vor allem in der Moderne erscheinen religiöse Semantiken und Symboliken oft in politisierter Gestalt – darum ist Politische Theologie ein fruchtbarer Modus der Lektüre.
Unter dem Stichwort Genealogien lädt der Workshop dazu ein, verschiedene Konstellationen in den Blick zu nehmen, die als ›Urszenen‹ oder Keimzellen politisch-theologischer Diskurse, Begrifflichkeiten und Metaphern gelten können, von der Theokratie der Hebräischen Bibel über Jesus’ ›Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist‹ bis zu Augustinus’ civitas terrena und civitas Dei, von der mittelalterlichen Lehre von den zwei Körpern des Königs über die luther’sche Zwei-Reiche-Lehre zu modernen Figuren der „Trennung“ von Staat und Kirche. Neben die Diskussion theologischer und politischer Souveränität bei Schmitt und Hans Blumenberg, Jacob Taubes und Giorgio Agamben, um nur einige zu nennen, treten dabei auch hierzulande weniger prominente Erblinien wie die lateinamerikanische ›Theologie der Befreiung‹ sowie die ›neue‹ Politische Theologie Johann Baptist Metz’, Jürgen Moltmanns und Dorothee Sölles, die Politische Theologie als sich öffentlich engagierende Theologie verstand – wider den Rückzug bzw. die Relegation der Religion ins Private.
Politische Theologie hat mit Gemeinschaften zu tun, mit ‚uns‘ und den ‚anderen‘. Der Glaube selbst ist gemeinschaftsbildend, mithin politisch, aber die Gemeinschaft der Gläubigen, die ihre eigene Organisation und Regeln ausbildet, sieht sich anderen Gemeinschaften gegenübergestellt: Andersgläubigen, Ungläubigen, und nicht zuletzt einer ‚weltlichen‘ Herrschaft, die beansprucht, neutral zu sein. In diesem Spannungsfeld entstehen zentrale Unterscheidungen wie die von Kirche und Staat, die Differenz verschiedener Konfessionen oder von ‚neuem‘ und ‚altem‘ Glauben, die dann ihrerseits neue Narrative und Abgrenzungen hervorbringen. Auch im postkolonialen Kontext sind politisch-theologische Energien im Einsatz, ob in der unverkennbar proselytischen ›mission civilisatrice‹ der europäischen Großmächte im 19. Jahrhundert oder der chiliastischen Vision einer ›Russki Mir‹, einer Russischen Welt, in Putins Neoimperialismus. Politische Theologie bezeichnet eine antagonistische und dynamische Konstellation, die je nach Standpunkt verschieden gewendet werden kann. Sie bildet ein Feld voller Konflikte und Polarisierungen, in das auch literarische Texte intervenieren. Ihre symbolischen Aushandlungen jener Verhältnisse und Konflikte bleiben dabei jedoch nur in den wenigsten Fällen selbst neutral. Stattdessen nehmen sie für die eine oder andere Seite Partei. Wer man ist und wer spricht, gegen wen und für was, darum geht es im Spiel wechselseitiger Desavouierung und Vereinnahmung, der Instrumentalisierung und Delegitimierung der jeweils anderen Position.
Politische Theologie verdichtet sich oft in verschiedenen Figuren: im Ausnahmezustand oder in der Effigie – der Puppe, die den toten König vertritt –, im Souverän des Barocktheaters oder dem verborgene Messias, im Märtyrer oder im Prophet, der bis in die Moderne hinein für ein erwecktes und erweckendes Sprechen steht. Viele dieser Figuren haben einen dezidiert literarischen Kontext wie der Großinquisitor Dostojewskis, der Christus für sein irreführendes Gebot der Nächstenliebe verurteilen möchte. Andere lassen sich erst aus ihrer Rezeptionsgeschichte verstehen, wie der Leviathan, der nicht nur Hobbes politischer Theorie des Absolutismus mit der Bibel verbindet und in Franz Neumanns Behemoth (1942), einer der ersten Theorien des Totalitarismus seine Fortsetzung und sein Gegenstück findet. Aber auch bis in die Gegenwart hinein bilden sich sich Figuren und Topoi politisch-theologischer Bedeutsamkeit: von Lourdes als antisäkularem Wallfahrtsort über das Selbstmordattentat zwischen Martyrium und Medienstrategie bis zu den Modellen der Zivilreligion.
Politische Theologie steht quer zu den Disziplinen und ist vielleicht gerade deshalb so fruchtbar. Wir laden daher explizit Beiträge aus verschiedenen Fächern ein und wollen auch die Vielfalt der Perspektiven thematisieren: Welche Rolle spielt Politische Theologie heute eigentlich in der Theologie? Welche religiösen oder konfessionellen Unterschiede gibt es? Wo wird sie in der politischen Theorie diskutiert und wie unterscheiden sich hier nationale oder kulturelle Traditionen? Welche Rolle spielt sie in der Kunstgeschichte und Bildwissenschaft? Wie beziehen sich eine kulturwissenschaftlich informierte Religionswissenschaft und eine am Thema Religion interessierte Kultur- und Literaturwissenschaft auf sie? Welche Hilfe leistet sie beim Nachdenken über unsere postkoloniale Situation?
Organisation: Robert Buch und Daniel Weidner
Programm
Donnerstag, 27. Juli 2023
9:00-9:30 Begrüßung
9:30:10:30 Gemeinsame Lektüre und Diskussion: Carl Schmitt und Jan Assmann
10:30-11:30 Ellwanger, Daniel (Leipzig): Politisch-theologische Sprechformen bei Michel de Certeau und Carl Schmitt
Kaffeepause
12:00-13:00 Johrendt, Lukas (Berlin): Im „Bann des Gesetzes“ – Giorgio Agamben als lutherischer Theologe des Politischen
Mittagspause
14:00-15:00 Scherübl, Florian (Dresden): Heinrich Heines ,Politische Theologie‘
15:00-16:00 Steilen, Felix (Leipzig): Drei Beispiele moderner Politischer Theologie: Jaime Balmes – Juan Donoso Cortés – Pierre-Joseph Proudhon
Kaffeepause
16:30-17:30 Schmid, Benjamin (München): Problemata politischer Prognostik. Zur Nachwirkung theologischer Denkfiguren und deren Auswirkung auf Politik
17:30-18:30 Gemeinsame Lektüre: Karl Barth, Römerbrief (1922)
Freitag, 28. Juli 2023
9:30-10:30 Gemeinsame Lektüre: Michael Walzer, Exodus und Revolution
10:30-11:30 Bohn, Charlotte (Wien): Das Poem der force. Gewaltkritik bei Simone Weil
Kaffeepause
12:00-13:00 Draxl, Alexander (Princeton): Politik der Tragödie: Susan Taubes zum Nutzen und Nachteil des modernen Schicksalsbegriffs
Mittagspause
14:00-15:00 Kirchhoff, Wanja (Trier): Kosmischer Ausnahmezustand. Zur gnostischen Konstellation von Herrschaft und Leben
15:00-16:00 Weber, Lea (Halle): Mystik – Weibliche Spiritualität und politisches Handeln
Kaffeepause
16:30-17:30 Abschlussdiskussion
Teilnahme -- für interessierte Nachwuchsforschende -- nur nach Anmeldung per Email: robert.buch@germanistik.uni-halle.de.