Literatur und Religion
Übersicht
Ein Forum für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
In den letzten Jahrzehnten haben sich die Verhältnisse zwischen Literaturwissenschaft und Religion, Theologie und Literatur deutlich verschoben. War das Verhältnis lange Zeit eher von wechselseitiger Abwehr, Desinteresse oder Missverstehen geprägt, so ist der garstige Graben zwischen den Fachkulturen heute unscharf geworden. In der Literaturwissenschaft hat die kulturwissenschaftliche Öffnung der letzten Jahrzehnte dazu geführt, dass religiöse Horizonte und Semantiken wieder ernster genommen werden, und in stärker philologisch ausgerichteten Untersuchungen ist die alte Säkularisierungstheorie neu diskutiert und in Frage gestellt worden. Die Theologie spricht heute, angesichts der allgemeinen Diskussion über die postsäkulare Gesellschaft und die globalen religiösen Verwerfungen, stärker in der Öffentlichkeit, auch in der Exegese finden literaturwissenschaftlich ausgerichtete Ansätze immer stärkeres Echo.
Damit taucht ein breites Feld von Fragen und Phänomenen auf, auf dem heute interessante Forschungen stattfinden. Manche literarischen Gattungen wie etwa die Legende oder das barocke Trauerspiel lassen sich ohne ihren religiösen Kontext kaum verstehen, andere theologisch zentrale Textsorten wie die Predigt sind noch kaum in Hinsicht auf ihre literarische Form untersucht worden. In manchen Epochen wie der Empfindsamkeit oder dem Vormärz hat die Auseinandersetzung mit der Religion eine konstitutive Rolle gespielt, die Theologie der Moderne greift wiederum breit auf literarische Verfahren zurück. Literaturästhetische Fragen etwa über die Medialität der Literatur haben häufig religiöse Implikationen und lassen sich umgekehrt auf ästhetische oder poetische Theologien beziehen. Denkfiguren wie das dichterische Charisma, die Gemeinschaft der Lektüre oder der literarische Kanon sind gerade in ihren religiösen Assoziationen entscheidend für die Politik der Literatur. Dabei wird aktuell Religion nicht mehr selbstverständlich mit theologischer Dogmatik oder mit dem Christentum identifiziert, auch Jüdische Zugehörigkeit, Islamische Frömmigkeit, spirituelles Wissen etc. können in Verbindung mit Literatur und literarischen Verfahren betrachtet werden. Denn gerade literarische Texte können als Verhandlungsräume von religiösen bzw. religiös-säkularen Differenzen betrachtet werden und es ermöglichen, die Präsenz von Religion in einer pluralistischen und säkularen Welt zu verstehen.
Allerdings gibt es hier – und auch das zeichnet die Fruchtbarkeit dieses Feldes aus – mehr Fragen als Antworten. Schon die Frage, wie man eigentlich „Religion“ konzeptualisieren soll und wie man damit sowohl die Fallgruben des Essentialismus als auch die Verstiegenheiten endloser Metareflexion vermeidet. Die Auseinandersetzung mit der Säkularisierungsthese zeigt zugleich, dass damit auch in Frage steht, was „Literatur“ eigentlich ist, wie wir sie lesen und wie es um ihre „Autonomie“ oder ihre „Modernität“ bestellt ist. Daher kann man sich hier auch nicht einfach auf die alte disziplinäre Arbeitsteilung zurückziehen, in der Theologie und Literaturwissenschaft jeweils „ihre“ Gegenstände verwalten, sondern sollte eher nach produktiven Störungen suchen. Wie so oft bei neuen und interdisziplinären Forschungsfeldern gibt es auch kaum „die“ Theorie, auf die man sich verlassen kann – es ist vielmehr nötig, aus den verschiedenen Diskurszusammenhängen einzelne Elemente aufzugreifen und sie je nach Erkenntnisinteresse und Forschungsfrage zusammenzusetzen – eine anstrengende, aber auch aufregende Tätigkeit, über die sich auszutauschen immer lohnend ist.
Das neue Interesse wird vor allem von jungen Forscherinnen und Forscher getragen, die ihre eigenen Gegenstände neu entdecken und alte Erkenntnishindernisse hinter sich lassen. Es gibt aber bisher im deutschsprachigen Raum nur wenige Orte, wo sich Interessierte auch über ihren unmittelbaren Forschungszusammenhang hinweg treffen und austauschen können. Zu diesem Zweck wird jeden Herbst in Halle ein Kolloquium junger Forscherinnen und Forscher zu Themen aus dem Bereich „Literatur und Religion“ veranstaltet. Die Ausschreibung richtet sich an WissenschaftlerInnen der verschiedenen Philologien, der Theologie, der Religionswissenschaft und der Geschichte, die sich mit dem Verhältnis von Literatur und Religion auseinandersetzen. Ziel ist insbesondere, die eigenen Qualifikationsprojekte zu diskutieren, Konzepte vorzustellen und voneinander zu lernen.
Organisation Robert Buch und Daniel Weidner
Workshops
Daniel Weidner (Hg.),
Handbuch Literatur und Religion
Das Handbuch widmet sich den Wechselbeziehungen von Literatur und Religion und gibt einen Überblick über die kulturellen Wirkungen von Religionen auf dem Feld der Literatur. Es stellt die religiösen Ursprünge und Kontexte der Literatur dar, zeigt, wie religiöses Wissen literarisch vermittelt und verhandelt wird, und untersucht, wie literarische Texte religiöse Vorstellungen und Praktiken aufnehmen bzw. auf sie reagieren. Mit Blick auf die verschiedenen Religionen, Epochen und Gattungen umreißt das Handbuch die wechselvolle und vielfältige Geschichte der Beziehung der Religion(en) zu Literatur(en).
J.B. Metzler, Stuttgart 2016, 484 Seiten
ISBN: 978-3-476-05336-7 (eBook); 978-3-476-02446-6 (Hardcover)