Literarische Chronistik. Elemente einer Schreibweise der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts
DFG-Projekt, geleitet von Prof. Dr. Daniel Weidner
Aktuelles
Blog "Chronistik"
+++ Der Blog Chronistische Schreibweisen ist ab sofort online +++
Der Projekt-Blog widmet sich den unterschiedlichen literarischen, medialen, popkulturellen, trivialen und alltäglichen Rückgriffen auf Chronistik. Es werden fortlaufend Beiträge veröffentlicht, die in kurzen, pointierten Lektüren Texte vorstellen und deren Verfahren erläutern. Ziel des Blogs ist es, die formale und mediale Vielfalt von Chroniken unterschiedlichster Gattungen und Epochen einer interessierten Öffentlichkeit vorzustellen.
Projektbeschreibung
In der Gegenwartsliteratur und ihrer Kritik wird häufig von ‚chronistischem Erzählen‘ und vom ‚Chronikstil‘ gesprochen und es lassen sich zudem Charakterisierungen und (Selbst-)Zuschreibungen von AutorInnen als ‚Chronisten‘ ihrer Zeit entdecken. So stilisiert sich etwa Rainald Goetz als „Chronist des Augenblicks“, Alexander Kluge beschreibt sich als „Chronist, der an einem Inventarverzeichnis des 21. Jahrhunderts arbeitet“. Christoph Hein wiederum hat bereits Ende der 1980er Jahre vom „Dilemma des Chronisten“ gegenüber der Vergangenheit, insbesondere des NS-Regimes gesprochen. Walter Kempowski veröffentlichte in den 70er Jahren eine Reihe von Romanen und Interviewbänden über die Zeitgeschichte als Deutsche Chronik. Uwe Johnson verbindet in seinem Opus magnum Jahrestage dezidiert vormodernes Erzählen mit avantgardistischen Schreibweisen und Formen der Montage und präsentiert einen fiktionalen Erinnerungsprozess an die NS-Zeit konsequent in 365 einzelnen Jahrestags-Kapiteln. Christa Wolf veröffentlicht in Ein Tag im Jahr (2003) ihre von 1960 bis 2000 verfassten Notizen über den jeweiligen 27. September als Protokoll-Serie der persönlichen, politischen und poetischen Entwicklung, die dokumentiert, wie Alltag zu „gelebter Zeit“ wird, wie die Autorin lernt, „sich selbst historisch zu sehen“ und wie dargestellt werden kann, wieviel „Allgemeines auch in Persönlichstem steckt“.
Diese Beobachtungen nimmt das DFG-Projekt zum Ausgangspunkt, um an Texten der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts unterschiedliche chronistische Schreibweisen in Bezug auf die jeweiligen Poetologien, Wissensformen und Medien zu untersuchen: Welche chronistischen Verfahren benutzen AutorInnen? Wie verbinden sich Montagetechniken mit narrativen Schreibweisen? Wie positionieren sich die Texte zur Geschichtsschreibung, zu den Programmen der literarischen Moderne, zu neuen Medien?
Zeitgeschichte aufschreiben und erzählen
Das Projekt betrachtet die zahlreichen Rückbezüge auf Chronistik im 20. Jahrhundert in ihrer funktionalen und kontextuellen Vielgestaltigkeit nicht als Gattung, sondern als gattungsübergreifende Schreibweise. Chronistik wird als ein Notationsverfahren verstanden, um markante zeitgeschichtliche Ereignisse aufzuschreiben, zu dokumentieren, erzähl- und erfahrbar zu machen. Bei allen Unterschieden zeichnen sich chronistische Schreibweisen aus durch sequentielles, oft stark zeitmarkiertes Erzählen (zeit)historischer Ereignisse, durch die Verbindung von narrativen und dokumentarischen Verfahren. Die unterschiedlichen AutorInnen arbeiten demnach an einer neuen Form der Geschichte der Gegenwart, indem sie explizit eine dezidiert vormoderne Schreibweise aufrufen, um eine dezidiert (spät-)moderne Wirklichkeit darzustellen. Zeitgeschichte wird vor diesem Hintergrund aber nicht nur abgebildet, sondern in ihrer Darstellbarkeit und Erzählbarkeit im produktiven Spanungsfeld aus Literatur und historiographischen Impulsen reflektiert.
Zwischen Ganzem und Ausschnitt
Chronistische Texte sind häufig topisch organisiert, indem sie zeitgeschichtliches Geschehen mit der Geschichte eines Ortes, einer Institution, einer Familie etc. konfrontieren. Sie beziehen so die großen weltgeschichtlichen Ereignisse und den kleinen Weltausschnitt aufeinander. Damit rücken zugleich einige produktive Spannungen in den Mittelpunkt, die in Bezug auf die jeweils konkreten chronistischen Schreib-, Darstellungs- und Erzählweisen der AutorInnen untersucht werden: zwischen Einzelepisode und Gesamtzusammenhang, zwischen Aufzählung und Ausdeutung, zwischen subjektiver Fokalisierung und universellem Anspruch, zwischen anachronistischer Vormoderne und experimenteller Moderne. Außerdem verbinden chronistische Schreibweisen oft faktuale und fiktive Darstellung und greifen dabei teils auf verschiedene Techniken der Authentifizierung wie Dokument-, Archiv- oder Zeugenfiktionen zurück. Sie sind häufig einer erkennbaren Chronistenfigur zugeordnet, die als Erzähler, Zeuge oder Arrangeur fungiert. Entlang dieser Spannungen profiliert sich in chronistischen Texte eine spezifische Poetologie moderner Schreibweisen.
Mediale Konstellationen
Chronistische Schreibweisen tauchen in der Moderne in aller Regel nicht selbständig in Form von Chroniken strictu sensu auf, sondern im komplexen Zusammenspiel mit anderen literarischen Formen und Gattungen sowie an der Grenze verschiedener Diskurse (Geschichtsschreibung und Literatur) und in verschiedenen medialen Konstellationen (Illustrationen, Archivfiktionen). Vor diesem Hintergrund legt das Projekt einen Schwerpunkt darauf, wie sich literarische Verfahren der Chronistik konkret mit anderen Medien verbinden. Als konzeptuell wie historisch fruchtbar erweisen sich dabei Tagebuch und Tagespresse, auf die chronistische Schreibweisen oft zurückgreifen und mit denen sie die sequentielle und strukturell unabgeschlossene Form wie das potentiell universale Gegenstandsgebiet teilen. Eine medien- und wissensgeschichtliche Aufgabe des Projekts besteht daher darin, chronistische Verfahren im Rahmen der zeitgenössischen Medienpraktiken und Wissensdiskurse zu kontextualisieren.
Mit diesen Perspektiven auf verschiedene chronistische Schreibverfahren in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts beanspruchen die aufeinander bezogenen Teilprojekte, den literarischen und begrifflichen Stellenwert der Chronistik für die Neuere Literaturwissenschaft zu erschließen. Kevin Drews untersucht die Verwendung chronistischer Schreibweisen in Romanen der Weimarer Republik, der NS-Zeit und des Exils. Das Projekt zielt darauf, eine Heuristik für chronistische Schreibweisen im 20. Jahrhundert zu entwickeln und an konkreten Fallbeispielen zu erproben. Dabei wird die Grundthese des Projekts – dass chronistische Schreibweisen zu einer Geschichte der Gegenwart beitragen – an einer historischen Konstellation, in der die Darstellbarkeit von Geschichte in besonderer Weise verhandelt wird, konkretisiert. Leon Bertz widmet sich spezifischen Schreibweisen im Umfeld einer Popliteratur, in der die Erforschung der Gegenwart ebenfalls zum erklärten Anliegen wird. In den Fokus rückt hier der literarische Versuch mittels der Chronik nahestehender Verfahren wie etwa der Serialisierung von momenthaften Präsenzbeschreibungen, fragmentarisch-episodischem Erzählen und dem Abarbeiten an einer alltäglichen Oberflächenästhetik, das zu rekonstruieren, was als "Gegenwart" so klar wie komplex jederzeit erfahrbar scheint.
Projektbezogene Veröffentlichungen
- Drews, Kevin: „Zwischen Beharrung und Beschleunigung. Johann Peter Hebel als Chronist der Kleinstadt“, in: Werner Nell/Marc Weiland (Hg.): Kleinstadtliteratur. Erkundungen eines Imaginationsraumes ungleichzeitiger Moderne, Bielefeld 2020, 141-166.
- Weidner, Daniel: „Chronik und kollektive Autobiographie. Schreibweisen der Gegenwart bei Alexander Kluge, Rainald Goetz und Annie Ernaux“ , in: Weimarer Beiträge 66 (2020), S. 527-543.
- Weidner, Daniel: „Jahr um Jahr, Tag für Tag. Chronistische Erzählverfahren bei Uwe Johnson“, in: Johnson-Jahrbuch, Bd. 24, 2017, S. 159-180.
- Weidner, Daniel: „Spiegel, Werkstatt, Chronik. Der Tagebuchroman bei Robert Walser, Max Frisch und Uwe Johnson“ , in: Zeitschrift für Germanistik 26 (2016), S. 332-347.
- Weidner, Daniel: „Täglichkeit. Tagebuch und Kalender bei Walter Kempowski und Uwe Johnson“ , in: Weimarer Beiträge 59 (2013), S. 504-525.
Veranstaltungen
- Workshop 'Chronik der laufenden Ereignisse'. Literatur und Zeitgeschichte
Termin: 02.03.2023 und 03.03.2023; Ort: Universität Halle
Seit der Covid-19-Pandemie sind einige literarische Versuche entstanden, den medizinischen, geschäftlichen, politischen, kulturellen Ausnahmezustand zu dokumentieren. Vom klassischen Feuilleton über digitale Tagebücher und Blogs bis hin zu ersten Covid-Romanen (Marlene Streeruwitz: So ist die Welt geworden. Der Covid-19-Roman; Juli Zeh: Über Menschen; Lia Yiwu: Wuhan. Dokumentarroman) verarbeiten Texte die zeitgeschichtliche Zäsur und beanspruchen, deren spezifische Dynamik zwischen Ereignis, Erlebnis, Erfahrung und Deutung darzustellen. Auffällig ist dabei, dass viele dieser Texte zunächst für und im digitalen Raum entstehen und erst sekundär im Druck publiziert werden. Autor:innen werden somit zu synchronen Chronist:innen, die mitunter Tag für Tag die Pandemie-Zeit vergegenwärtigen. Dieses Phänomen nimmt der Workshop zum Anlass, um das Verhältnis von Zeitgeschichte und Literatur auch historisch zu erfassen.
Wie wurden zu unterschiedlichen Zeiten zeitgeschichtlich markante Ereignisse aufgeschrieben? Welche Verfahren wurden benutzt und wie wurde mit unterschiedlichen Materialien (Zeitungen, Dokumente, Tagebücher) umgegangen? Wie wurde die Zeitlichkeit bzw. Ereignishaftigkeit des Berichteten modelliert? Welche medialen Poetiken verbinden sich mit der simultanen Aufzeichnung im Netz? Wie verhält sich das zu verschiedenen Geschichts- bzw. Gegenwartskonzeptionen?
Programm
Donnerstag, 02.03.2023
13.00 – 13.30:
Begrüßung und Einführung (Daniel Weidner)
13.30 – 14.30:
Theo Jung (Halle): Historische Tagebuchforschung: Themen, Thesen, Tendenzen
14.30 – 15.30:
Katharina Eger (Halle): Angekommen in der Transformation? Selbstverortungen im Umbruchsgeschehen bei ostdeutschen Teilnehmer:innen im Tagebuchprojekt des ZiF (1990-1997)
16.00 – 17.00:
Nora Ramtke (Bochum): Die Anthologisierung der Gegenwart: Überlegungen zur "Sammlung der deutschen Kriegs- und Volkslieder des Jahres 1870"
17.00 – 18.00:
Kevin Drews (Halle): August 1914 – Chronik als Konkursmasse oder Rohstoff von Zeitgeschichtsschreibung?
18.00 – 18.30:
Vorstellung des Projekt-Blogs „Chronistik“ (Leon Bertz)
Freitag, 03.03.2023
09.00 – 09.30:
Rekapitulation
09.30 – 10.30:
Felix Kraft (Halle): Bestandsaufnahme des überwundenen Faschismus. Der Bestseller "Am grünen Strand der Spree" (1955) von Hans Scholz.
10.30 – 11.30:
Steffen Hendel (Halle): Demokratisierte Sinngebungen in Radio-Features der deutschen Nachkriegszeit
12:00 – 13.00:
Szilvia Gellai (Wien): Szenenbild, Collage, Glossar. Zu Friedrich von Borriesʼ chronistischen Strategien
13.00 – 14.00:
Eckhard Schumacher (Greifswald): „Es ist nicht abzusehen, was das heißt, dass jetzt eine neue Ära beginnt“ – Zeitmitschrift und Zeitreflexion in Corona-Tagebüchern
14.00:
Abschluss und Mittagsimbiss